Oder: Warum Crowdsourcing überhaupt laufen lernte…
Ist die Welt eigentlich schlechter geworden in den letzten zehn Jahren? Ist das, was uns so alles angeboten wird, was man überall kaufen kann, weniger gut als früher? Qualitativ weniger hochwertig?
Es wäre doch sehr zu wünschen! Sonst wäre irgendetwas Grundsätzliches nicht in Ordnung! Denn: Eigentlich während des ganzen 20sten Jahrhunderts war die Welt von Profis gemacht. Von Leuten, die in ihrem Job Spezialisten waren, oft lange Ausbildungswege zurückgelegt hatten und dann durch das enge Nadelöhr von Eintrittsbarrieren Teil ihres professionellen Berufsstandes wurden. Die Wissenschaft war wie ein Schutzschild über dieses System ausgebreitet und sorgte dafür, dass keine unheiligen Vermischungen stattfanden zwischen denen, die Kraft Ausbildung und Zulassung wissen, was sie tun einerseits und allen anderen andererseits. Das wurde zur Weltordnung spätestens in der Mitte des 19ten Jahrhunderts und blieb anschliessend Jahrzente lang eine unangetastete Selbstverständlichkeit.
Noch vor dieser Zeit war ein wesentlicher und ausgesprochen fruchtbarer Teil der Wissenschaft im damals dominanten England von der Royal Society getragen worden, einer Gesellschaft ausschliesslich neben- und ehrenamtlich tätiger Mitglieder, die vor allem der Sache verpflichtet waren. Sie hatten durch ihren oftmals adligen Hintergrund genug Zeit und Geld mitgebracht, die wissenschaftliche Forschung mit viel Hingabe voran zu treiben. Man beachte dabei: Der Begriff Amateur kommt vom lateinischen amare, beschreibt also vor allem die Liebe zur Sache – der heutige Beigeschmack des bemitleidenswerten Dilettantismus kam erst später dazu. Das Fundament der heutigen Wissenschaft wurde als gelegt von Begeisterten, Liebhabern, Hobbyforschern. Von Dilettanten sozusagen. Im Jahre 1831 endlich emanzipierte sich die professionelle Wissenschaft, nach einiger ideologischer Vorarbeit unter anderem von Charles Babbage, von dieser Form der Hobby-Wissenschaft durch die Gründung der British Association for the Advancement of Science. Beeinflusst von den Thesen von Adam Smith und nach dem Vorbild der in Frankreich von Napoléon geschaffenen rein staatlichen Bildungseinrichtungen wurde der Professionalismus in Bildung und Arbeitswelt vorangetrieben.
Das Ergebnis: Wissenschaftliche Artikel wurden geschrieben von Leuten mit einer ansehnlichen akademischen Mindestreife (alles andere wurde ganz explizit nicht zur Kenntnis genommen, ungeachtet des Inhalts!), die Headlines der Zeitungen wurden von einem kleinen Kreis ausgewählter Journalisten bestimmt – und nach einer gewissen Anlaufzeit wurden bald auch Unternehmen nur noch von professionellen Managern geführt. Lange eine Selbstverständlichkeit, lange nicht hinterfragt.
Mit einer kleinen Ausnahme allerdings: Wir befinden uns im Jahre 1970 n. Chr. Die ganze Berufswelt ist von Professionellen besetzt. Die ganze? Nein, eine kleine, unbeugsame Nische widersetzt sich der Besetzung erfolgreich. Nicht aufgrund der Einnahme leistungssteigernder Flüssigkeiten, sondern aufgrund der Tatsache, dass diese Fachrichtung sich seit ihrer Entstehung permanent schneller entwickelt hat, als irgendwelche Strukturen Fuss fassen konnten: im IT-Bereich, dem man damals noch EDV sagte. Hier gab es echte Pionierleistungen von völlig Untrainierten – Trainierte gab’s ja nicht. Amateure also, im klassischen Sinne des Wortes, bestimmten und gestalteten den rasanten Aufstieg dieser Branche. Das professionelle Establishment aller anderen Berufsgruppen nahm die Ergebnisse dieser Branche stillschweigend zur Kenntnis und profitierte von den neuen Möglichkeiten. Schliesslich war die IT-Industrie nichts anderes als ein Lieferant von Arbeitshilfen und Arbeitsmitteln, mit denen die Welt schneller und effizienter wurde, die aber ihre Ordnung nie in Frage stellte. Dass diese Branche (vor allem ihre Speerspitze, die sich zunehmend mit der weltweiten Vernetzung beschäftigte) immer noch zu einem guten Teil aus Amateuren, Freaks und sonstigen Outlaws bestand, störte niemanden wirklich.
Vielleicht hätte man nicht so unbedarft sein sollen.
Heute, ein gutes Jahrzehnt nachdem das Internet richtig Fahrt aufgenommen hat, beginnt die Welt – die Berufs- und Bildungswelt – in ihren Grundfesten zu erbeben. Niemand hat eine Revolution angezettelt – die Freaks haben einfach lange genug rumgebastelt.
Mit welchem Ergbnis? Heute werden die Top News nicht mehr vor allem von Journalisten verbreitet sondern über hunderte von Millionen Blogs – einige davon extrem einflussreich. Die Bebilderung der Werbe- und Kommunikationswelt geschieht nicht mehr durch professionelle Fotografen und ihre Fotostock-Agenturen (mit Entschädigungen im guten vierstelligen Bereich), sondern durch Millionen von Hobbyfotografen, die ihre Fotos über grosse Sharing-Plattformen für ein paar Cent anbieten. Die heute grösste und mächstigste Enzyklopädie der Welt wurde (bekanntlich) nicht von Gelehrten geschrieben und redigiert sondern funktioniert als offene Wissenplattform einer riesigen Schar von Autoren. Werbekampagnen werden in Wettbewerben bei offenen Communities ausgeschrieben – und von deren Members oft auch noch gerade produziert. Und sogar technische Verfahrensinnovationen, beispielsweise in der Pharmabranche, werden an die Masse ausgelagert, die dabei nicht selten der Heerschar der Inhouse-Entwickler ein Schnäppchen schlägt (im Sinne der Unterstützung der hilfebedürftigen Konkurrenz schaue man sich das mal an: www.innocentive.com).
Das Prinzip bei allem: Die bessere Lösung gewinnt, die Schlechtere wird rausgevotet. Völlig egal, wer den Inhalt geliefert hat. Meritokratie pur. Und je mächtiger die Technologie wird, desto mehr Fachbereiche werden von diesem Phänomen erfasst.
Die Rückkehr des Amateurs also. Getrieben von Technologie und den damit verbundenen tieferen Kosten des gegenseitigen Austauschs einerseits – und andererseits davon, dass immer mehr Leute immer mehr wissen und dieses Wissen loswerden wollen.
Deshalb nochmals die Frage: Ist die Welt nun schlechter geworden? Hat die Amateurisierung die Qualität unseres Wissens, unserer Produkte und Dienstleistungen nach unten gezogen? Enden wir alle auf dem intellektuellen Niveau des fernsehtäglichen Vorabendprogramms?
Ich glaube nicht. Geändert hat sich lediglich die Breite der Wissensbasis (auch das professionelle Establishment ist ja weiterhin dabei) und der Auswahlmechanismus. Es gilt nach wie vor: Vieles unbrauchbar, manches brauchbar, einiges ausgezeichnet. Wir müssen nur das Richtige auswählen.
Viel wichtiger ist – abschliessend – folgende Frage: wohin führt uns das?
Vorlesungen, die von den erfolgreichsten Bloggern gehalten werden? Flugzeuge, konstruiert von den Modellbauern mit den besten Testergebnissen im Online-Simulator? Chirurgische Eingriffe mit vom heimischen PC gesteuerten Robotern, durchgeführt vom Hobby-Operateur mit den besten Votes?
Alles offen. Das Thema Management scheint sich auf jeden Fall auch schon auf diesem Weg zu befinden (die Bescheidenheit verbietet mir, an dieser Stelle die Plattform open management network mit ihrer kryptischen Adresse www.omanet.ch und ihrem einzigartigen Konzept explizit zu erwähnen).
Wie auch immer es weitergeht mit der Rückkehr des Amateurs: Mir fällt spontan keine Berufsgruppe ein, der ich nicht empfehlen würde, sich äusserst intensiv damit zu beschäftigen!
Frank Wolff
www.managementinnovationblog.ch